DIE THEORIE

Die Theorie von der Koordination von Wissen und Glauben (Coordinate Magisteria COMA)

Einheitlichkeit der Welt

Im ungebremsten Materialismus der Gegenwart sucht Markus von Hänsel-Hohenhausen nach der Verbindung der beiden Magisterien der Vernunft und des Glaubens. Stephen Jay Goulds „Nonoverlapping Magisteria (NOMA) begründet er als „Coordinate Magisteria“, als nicht nur nicht widerstreitende, sondern als aufeinander hingeordnete, sich ergänzende Wirklichkeitszugänge. Vernunft und Glauben widersprechen sich demnach nicht, wie derzeit allgemein geglaubt wird. Sie sind Ausdruck der Einheitlichkeit der Welt, die die Naturwissenschaften vielfältig bestätigen, wie zum Beispiel im Gesetz der multiplen Proportionen (Ganzzahligkeit als natürliches Prinzip: der chemischen Elemente, in der Musik, in der Mathematik etc.), in der Theorie von der Entstehung der Welt in einem singulären Ereignis („Urknall“) etc.
Hänsel-Hohenhausen nutzt die aktuellen Stände in den Grundlagenforschungen von Mathematik, insbesondere der Mengenlehre, von Physik und Biologie, aber auch die Erkenntnisse der Sprachgeschichte, der Herrschaftstheorie des hohen Mittelalters, die Bildtheorie usw. Überall zeigt er, daß unsere Welt und die Formen, die wir erleben und naturwissenschaftlich erforschen, eine verblüffende Einheitlichkeit besitzen. Diese Einheitlichkeit ist, so Hänsel-Hohenhausen, die der ewigen Dualität von Materie und Geist und deshalb die der Geistkörperlichkeit des Menschen. Sie findet sich schließlich auf eigentlich doch vorauszusetzende Weise auch in der Dualität der Erkenntnismöglichkeiten, also in Wissenschaft und Religion wieder. Die Koordination beider Magisterien hat Hänsel-Hohenhausen systematisch dargestellt in der Grundlagenschrift „Ich denke, also glaube ich“ (2007), in der er nachweist, daß wissenschaftliches Denken metaphysische Grundlagen hat und metaphysische Techniken nutzt, die zu Ergebnissen führen, die sich dann in der Wirklichkeit als physikalisch zutreffend erweisen.

„Ein Anfang, der sich selbst setzt und sich keiner Wirkung verdankt, ist ein Ursprung. Er ist ‚singulär’, weil er unableitbar, unteilbar ist und in ihm alles, wenigstens als Möglichkeit beschlossen liegen muß.“

„Der Punkt (das Axiom in der Geometrie) ist das unteilbare einheitliche Eine, das zugleich nicht sichtbar ist. Seine Ausdehnung ist, mathematisch, null. Der Versuch, die Strecke zu finden, die sich nicht mehr teilen lässt, führt in die Unendlichkeit. Obwohl sie mathematisch null ist, ist sie aber deshalb nicht nichts. Denn alles geht aus ihr, der Strecke, die in der Unendlichkeit ist, hervor. Sie erfüllt die Kriterien eines Anfangs, der ein Ursprung ist.“
(Vom Elektron zur Heiligen Dreifaltigkeit Gottes)


Einheitlichkeit aus Einursächlichkeit, Paradoxe fixieren die Ursprünge von Materie (Axiom) und von Geist (Dogma)

Aus der Beobachtung der Einheitlichkeit der Welt erwächst naheliegenderweise die Frage nach der Ursache, die in der Physik ebenso wie in der Religion als Einursächlichkeit (als sog. Singularität) gedacht wird. In einer dem Philosophen Kurt Hübner gewidmeten Arbeit beweist Hänsel-Hohenhausen, dass ein naturwissenschaftliches Axiom, das den Ursprung von Materie fasst, und ein religiöses Dogma, das den Ursprung des Geistes fasst, identisch strukturiert sind („Vom Elektron zur Heiligen Dreifaltigkeit Gottes“, 2011). Wir begreifen den Ursprung des Geistes in denselben Paradoxen, die in Physik und Mathematik zu nachprüfbar richtigen Ergebnissen führen. Weil die Denk- und Vorstellungskonzepte von Naturwissenschaft und Glauben an diesem Punkt analog sind, behauptet sich die christliche Idee vom Ursprung des Geistes im analytischen Denken. Gott wird wissenschaftlich-systematisch denkbar.
Die Logik, die die Mathematik grundgelegt hat, lässt also nichts Geringeres zu als einen Gottesbeweis, abgeleitet aus der klassischen Definition der Elementarteilchen (den der Verfasser als „Gotteserweis“ bezeichnet, weil Gott, der Geist, der immer größer ist als jedes Messen und logische Ableiten, sich von keinem Beweis eines Menschen umfassen lässt und sich höchstens dem Suchenden „erweist“).

Der Anteil des Menschen am Geist ist einer Erscheinung in der Geometrie gleich: Das Fraktal beruht, anders als glatte Figuren, auf Selbstähnlichkeit und ist in jedem seiner Teile immer ganz, indem es in jedem beliebigen Teil verkleinerte Kopien seiner selbst zeigt. Es ist, da es bei einer Teilung stets neu erscheint, unteilbar. Es ist sich selbst Ursprung, da es nirgends Bruchstück ist und sich nicht von einem andern als seiner eigenen, sich wiederholenden Rechenoperation ableitet. So ist auch der Geist Gottes zu verstehen: Als Ganzes ist er der Ursprung der einzelnen Teilhabe, die jeweils ebenfalls ‚ganz’ ist. In der Gemeinschaft der einzelnen wiederholt sich dieses Ganze, weil es der Selbstwiederholung, der sog. Iteration, entspringt, die das Alte Testament die Gottebenbildlichkeit nennt. Sie, die Iteration, ist die Ursache des Fraktals, das ebenfalls die dreifaltige Struktur aufweist.“
(„Das Elektron und die Heilige Dreifaltigkeit Gottes als die Ursprünge von materieller und geistiger Welt“)


Das „metaphysische Komma“ im Kanon der Beweistechniken

Hänsel-Hohenhausen schlägt die Brücke nicht nur zwischen Physik, Mathematik und Theologie, sondern seine Erkenntnistheorie greift auch konkret in den Kanon der naturwissenschaftlichen Beweistechniken ein. Die Evolutionslehre wurde bekanntlich erfolgreich durch die Analogie, mit der von gleichen Merkmalen verschiedener Spezies auf gemeinsame, jedoch unbekannte Vorfahren geschlossen wird. Die Theorie Darwins wurde zur Lehre, die Analogie rückte erstmals vom Indiz in den Rang eines Beweises auf. Hänsel-Hohenhausen weist nun daraufhin, daß diese Aufwertung der Analogie im Kanon der Beweistechniken keine erkenntnistheoretische Verwässerung ist, sondern die Evolutionstheorie erst erfolgreich gemacht hat. Und dies, weil der Schluß von zwei Bekannten auf einen Unbekannten keine naturwissenschaftliche Deduktion, sondern Metaphysik ist, so wie der Schluß von der Uhr, um ein traditionelles Argument aufzugreifen, auf die Existenz eines Uhrmachers immateriell und geistig ist. Dieses „metaphysische Komma“, sagt der Verfasser, stellt die Analogie in der Beweiskraft höher als den Beweis selbst, der nur das Messen und Wiegen des fehlenden Menschen zum Gegenstand hat. Der Analogieschluß ist demnach ein Beweis aus Denken, ein Wirken des Geistes, das an das Materielle rückangebunden ist. Bliebe die Theoretische Mathematik das Protokoll reinen Denkens und verzichtete sie auf Prüfung ihrer Ergebnisse in der Wirklichkeit, bleibt sie metaphysisch. Auch wenn sie, physikalisch angewendet, sich folgerichtig bestätigt, trägt die Mathematik noch jenes Komma in sich.
Die Analogie sieht Hänsel-Hohenhausen somit als Ausdruck der Koordination von Natur- und Geisteswissenschaft, ihre Aufwertung im Kanon der Beweistechniken als Ausdruck des Wissens um die Dualität der Welt aus Einursächlichkeit an.

„Ist der naturwissenschaftliche Satz als Analogie zur Realität wahr (er ist zusätzlich sogar aus dem wissenschaftlichen Beweis heraus wahr) und befindet sich ein religiöser Satz in Analogie zu diesem naturwissenschaftlichen Satz, dann muß auch der religiöse Satz wahr sein, denn in einer einursächlich-einheitlichen Welt kann nicht unwahr sein, was gleich dem ist, das der Wahrheit gleich ist.“
(„These: Wenn das Axiom vom Atom (Elektron) als Prinzip der körperlichen Welt wahr ist, dann ist auch das Dogma von der Heiligen Dreifaltigkeit Gottes als Prinzip der geistigen Wirklichkeit wahr“)


Die Welt, die einheitlich ist, hat ein geistiges Antlitz

Diese erkenntnistheoretischen Studien haben ihren vorläufigen Abschluß in zwei Arbeiten gefunden. In „Vom Antlitz in der Welt“ betrachtet Hänsel-Hohenhausen die Landschaften des abendländischen Geistes; und wieder stößt der Verfasser auf jene Singularität, von der alles ausgeht und die durch die Formen der Welt hindurch- und in der Person, ihrem Begriff und Antlitz aufleuchtet („Vom Antlitz in der Welt, Gedanken zur Identität im 21. Jahrhundert“, 2005). In seinem jüngsten Buch „Schönheit aus Wahrheit“ (2010) erprobt Hänsel-Hohenhausen an 15 Biographien seine Idee des Antlitzes als Ausdruck des Geistes. Tatsächlich bezeugen sie die Koordination der beiden Magisterien. Bekannte und vergessene Musiker und Schriftsteller, die in von ihnen selbst authentifizierten Photographien zu sehen sind, werden zu Beispielen dafür, daß der Geist die Materie in-formiert, und deshalb dafür, „was der Mensch sein kann“ (Professor Dr. Volker Kapp in der Rezension des Buchs).

„Das wissenschaftliche Denken ist auf die Erkenntnis der Erscheinungen einer komplexen, kontingenten, metaphysischen Ordnung gerichtet, die die Natur verborgen prägt. In der Beziehung von Wissenschaft und Welt spielen Analyse und Synthese, Beweisdenken und Metaphysik, Ergreifen von Welt und Ergriffensein von Wirklichkeit zusammen. Weil auch die moderne Wissenschaft auf Kontingenz beruht (Axiome) und Kontingenz bestätigt (Erfolge von Analogie und Intuition), sind Wissen und Glauben eins: Es weiß mehr, wer glaubt, und wer weiß, der glaubt. Das materialistische Beweiswissen wird erst durch das Glaubenswissen zur vollen Erkenntnis vollendet. Zustimmendes Denken, das die Fülle der Wirklichkeit wahrnimmt und die Tiefe des Menschseins erkennt, löst die dem Subjekt verheißene Herrschaft auf in die Freiheit der Person.“
(„Ich denke, also glaube ich“)


Bedeutung der Theorie

Die zivilisatorische Höhe einer Gesellschaft lässt sich mit der Frage bestimmen, ob das Leben unter Schutz steht und ob dieser Schutz absolut ist und allem Argumentieren mit Gründen überhoben ist – oder nicht. Von einer Hochzivilisation dürfen wir, so Hänsel-Hohenhausen, erwarten, daß ihr höchstes Gut das Leben ist.
In einem noch unveröffentlichten Aufsatz schildert er, wie der Vernunftbefehl Kants, der die Leitung durch einen Dritten ausschließt, in den Materialismus der Gegenwart mündete. Vernünftig ist, lehrt uns die Aufklärung, die dem Subjekt die Herrschaft sichern will, was dem Individuum dient. Max Horkheimer und Theodor W. Adorno haben auf Marquis de Sade und auf seine frühe Kritik der Aufklärung hingewiesen. Die fiktive Figur Juliette begeht alle Verbrechen, die ihr Vorteile bringen und Lust bereiten – sie handelt vernünftig. Eine Instanz, die mit einer verbindlichen Ethik der Vernunftdoktrin Schranken auferlegte, kann es nicht geben, denn diese wäre die von Immanuel Kant ausdrücklich untersagte Leitung eines Dritten. Aufklärung ist aber die Befreiung des Individuums aus der Unmündigkeit und nicht die Abhängigkeit von einer ethischen Instanz. Deshalb und weil die Gottebenbildlichkeit des Menschen ungültig geworden ist, so Hänsel-Hohenhausen, weiß heute keiner mehr, wie sich die vielzitierte Menschenwürde sicher begründen lässt, wo sie anfängt und aufhört, was sie ohne den Glauben an einen Gott konkret bedeuten soll.
Die Aufklärung des 17. und 18. Jahrhunderts war so radikal, wie keine Aufklärungsbewegung davor. Bis dahin bedeuteten Aufklärung oder Geistliche Restauration nur die Neugewichtung im Verhältnis von Wissen und Glauben. Die neue Aufklärung hat nun erstmals das Magisterium des Glaubens und Geistes ganz abgeschafft und uns diesen in jeder Biographie wirkenden Zugang zur Wirklichkeit versperrt. Der losgelassene Materialismus der Gegenwart ist ihr konkreter Ausdruck. In völliger Reinheit hat er sich im Nationalsozialismus ausgeprägt. Hitler sprach unverblümt vom „Menschenmaterial“, von „Degeneraten“ und genetischen „Schädlingen“. Die Genetik, die den Menschen auf seine Chemie zu reduzieren scheint, war eine glänzende Bestätigung, ja die Grundlage der nationalsozialistischen Rassen- und Gesellschaftslehre.

„Anders als die personale Kunst der Alten verbraucht sich die abstrakte Kunst (die den puren Materialismus ausdrückt). Ist sie das Werk der Hände, in das sich der Künstler als Person nicht mehr einbringt, wird es zur Anwendung, die nicht mehr erschaffen, sondern nur technisch erzeugt ist. Wenn Eltern sich durch Verschmelzung ihrer Chromosomen fortpflanzen, haben sie das Zeug, die in der DNA konfigurierte Chemie, um Leben zu erzeugen. Erschaffen können sie es – das Zeug und mit ihm das Leben – nicht. Deshalb kommen Geist und Wahrheit, die nicht erzeugt werden können und nicht vergehen, nicht von einem Gen, nach dem die Forscher vergeblich suchen. Abstrakte Kunst, die nichts zu sagen weiß von der Person ihres Erzeugers, ist ohne Geist und Wahrheit und langweilt den Betrachter rasch, der nochmals hinschaut. Aus einer Ausdrucksmöglichkeit für absolute Bedeutung, für oder aus Wahrheit in Körperlichkeit, ist ein leichtgewichtiges Verbrauchsgut geworden. Also ist es nicht technische Meisterschaft, die die Kunst meisterhaft macht, sondern das Meistersein.
Die Folge ist, daß es zwar für die Beurteilung der Technik Maßstäbe gibt, nicht aber für Kunst und Schönheit. Nicht die ‚Neuen Meister’ stehen den ‚Alten Meistern’ gegenüber, sondern in begrifflicher Genauigkeit nur die ‚Moderne Kunst’.“
(„Von der Metaphysik des Antlitzes“, in „Vom Wunder des Antlitzes im Bildnis“)


Dieser schiere Materialismus der Aufklärung wurde politisch wirksam. Weil Menschen mit bestimmten Merkmalen ein Volk und seine Überlebenschancen schwächten, müßten diese getötet werden. Innerhalb der Ideologie wurde es „vernünftig“ zu töten. Der Schutz des Lebens stand Vernunftgründen nach und ist Ausdruck und Ergebnis der Aufklärung. Das Diktatorische des Vernunftbefehls Kants kehrt im Diktatorischen des Nazi-Regimes wieder.
Daß wir heute, so Hänsel-Hohenhausen, dem Nationalsozialismus nicht gegenüberstehen, sondern im Strom des Materialismus auf ihn gefolgt sind, daß unser Denken in seiner Tradition steht, ist daran zu sehen, daß das deutsche Parlament mit Konsens in der Bevölkerung wieder Gesetze beschließt, die es aus Vernunftgründen erlauben, Menschen mit bestimmten Merkmalen zu töten. Die Vernunft kennt auch heute keine absoluten Gründe, die nicht in der nächsten Sitzung der Politiker umgeworfen werden könnten. Gründe sind niemals absolut, sondern relativ zu dem, was dem Individuum zur Zeit als vernünftig erscheint bzw. zu dem, was der Mensch weiß und was ihm ewig immer noch zu lernen aufgegeben ist. Absolut kann der Schutz des Lebens nur sein aus einer Ethik, die der Verfügung des Menschen entzogen, die also göttlich ist.

Obwohl die Aufklärung dem Menschen Herrschaft verspricht, hat sie ihn besonders unfrei gemacht. Freiheit, die in der Vermehrung des Materiellen liegt (also in Erfolg und Reichtum bzw. in der sozialistischen Umverteilung von Gütern als gesellschaftliche Kernaufgabe), kann den Menschen niemals von der Materie losbinden, so der Autor. Gerade, wenn die Vermehrung gelingt, im Reichtum, zeigt sich, was es mit dem Versprechen auf sich hat: die Herrschaft des Materialismus, durch die Aufklärung vernünftig begründet, unterwirft das Individuum. Ja, selbst das Verlangen nach der idealen Gerechtigkeit, die sich je mehr entzieht, je näher man ihr zu kommen meint, macht unfrei. Freiheit kann nicht an Gütern anhängen, sondern nur geistige und deshalb religiöse Freiheit sein, die allein erlösen kann von der Materialität des Lebens.

„Beispiele für die Verherrlichung der Technik, die eine Verherrlichung des Materialismus ist, sind die gefeierten Klassiker der Kunst des 20. Jahrhunderts, die Rasterbilder Roy Lichtensteins (…), aber auch die abstrakten Werke Gerhard Richters, dessen Fenster im Kölner Dom den kulturellen Verfall, der von der Aufklärung auch ausgegangen ist, in den religiösen Raum hineingetragen hat. Seine 11.500 farbigen Quadrate sind eine ‚Projektion des digitalen Rauschens’ und damit präzise Zustandbeschreibung der modernen, abstrakten Kunst: Getöse ohne Mitteilung, Materie als stumpfe Wahrheit, Repetition der leeren Materialität als Ausdruck dessen, was als modernes Leben erfahren wird.
Die Technik, das Mittel der eigentlichen Mitteilung, ist also selbst zur Mitteilung geworden. Leere Zeichen bleiben freilich hohl, weil das Individuum zwar eine Bedeutung in sie hineinlesen, diese aber auch jederzeit widerrufen kann. Bindung an Wertteilhabe, auf die hin man sein Leben verantworten, auf die hin man sich verlassen kann, kann so nicht entstehen. Das moderne Individuum erfährt das Leben auch nicht mehr in seiner Tiefe, sondern vor allem sich selbst. Es ist am Leben in Sinnerfüllung gehindert, das allein ihn zum Sterben bereitmachen kann.
Weil er das verhinderte Leben beendet, ist der Selbstmord zur gesellschaftlich akzeptierten Option geworden. Goethes Werther, der Urtypus des in seinen Gefühlen gefangenen modernen Menschen, lebt vor, wohin Relativierung der Welt, die Verneinung der Spiritualität des Menschen und die Verherrlichung der baren Körperlichkeit in Wahrheit führt: zur Entwertung des Lebens selbst. Der Materialismus der Gegenwart, der die Menschen in orientierungsloser Betriebsamkeit hält, ist, wie Papst Johannes Paul II. es ausdrückte, eine Kultur des Todes.“
(„Von der Metaphysik des Antlitzes“, in „Vom Wunder des Antlitzes im Bildnis“)


Wissenschaft und Vernunft bedürfen einer Instanz, die der Verfügung des Individuums überhoben ist und die verbindlich festlegt, was das Individuum nicht tun darf. Diese Instanz ist nicht zu wissen (denn dann wäre sie wieder der Verfügung des Individuums und seinem Zweckdenken unterworfen), sondern nur zu glauben. Richtiger Glauben ist nicht blind, so der Autor, sondern vernünftig und verbürgt. Deshalb ist die christliche Religion auch eine Wissenschaft und logisch (Theo-logie) und unterscheidet sich allein dadurch von anderen, insbesondere esoterischen Lehren, die unverbürgt bleiben. Wissen ist nicht ohne Glauben möglich, und Glauben nicht ohne Wissen.
Der kalte Strom des Materialismus mit seiner Neigung zur Leere, zum Nichts und zur Verhinderung von Leben kann nur unterbrochen werden durch die Aufwertung der Religion zum gleichberechtigten Zugang zur Wirklichkeit. Die lebendige Koordination der Magisterien von Wissen und Glauben, wie die Wissenschaften sie bei genauer Betrachtung zeigen, ist nichts, was auszudenken wäre. Der Glaube ist im analytischen Denken ohnedies und immer da, aber die Bestimmung ihres Verhältnisses muß wieder neu erfolgen. Sie ist ein Erfordernis der Erkenntnistheorie und liege, so Hänsel-Hohenhausen, im Interesse der Wahrheit.


Schlussfolgerungen: eine Theorie des Wissbaren

Es ergeben sich provokative Schlüsse: Die Koordination der beiden großen Erkenntnisquellen der Wissenschaft (die in ihren Beweisführungen nicht ohne Glauben auskommt) und des christlichen Glaubens (der nicht ohne Vernünftigkeit bestehen kann); die Unrichtigkeit ihrer behaupteten gegenseitigen Abstoßung und damit die Unrichtigkeit von szientistischer Aufklärung und religiösem Fundamentalismus; die Wahrheit christlichen Dogmas aus physikalisch begründeter Analogie; schließlich eine „Theorie des Wissbaren“, die die „Katholizität des Wissbaren“ aufscheinen läßt.

„Daß die Axiome von Wissenschaft und Religion, die der Wirklichkeit eine Struktur geben und sie uns damit erschließen, paradox sind, mag mit unserer Natur zusammenhängen, die, wie alles geistgeprägte Materielle, in menschlichen Begriffen, paradox ist. Das Leben ist ein Mysterium (daraus lat. sacramentum), eine gewirkte Wirklichkeit, in die wir hineingeboren werden, um zu sterben, eine Realität, die uns unverständlich ist. Wir, die wir schon unseren eigenen Anfang nicht haben, umfassen mit der Idee des Elektrons und der Heiligen Dreifaltigkeit Gottes, was uns umfasst: den immerwährenden Anfang unserer körperlichen und unserer geistigen Welt, also die Wirklichkeit unseres Lebens.“
(„Das Elektron und die Heilige Dreifaltigkeit Gottes als die Ursprünge von materieller und geistiger Welt“)


Hänsel-Hohenhausen baut auf dem Fundament weiter, das der Philosoph Kurt Hübner in seinen in viele Sprachen übersetzten Standardwerken gelegt hat (z.B. „Kritik der wissenschaftlichen Vernunft“, „Die Wahrheit des Mythos“, „Glaube und Denken“). Hübner hat mit wissenschaftlicher Methode das Mythische und damit den Glauben als gegenwärtige Wirklichkeit begründet, die der Vernunft zugänglich ist, in Gewissheit und Wahrheit in keiner Weise nachsteht. „Hübner ist wohl einer der letzten Universalisten der Philosophie und Wissenschaftstheorie, der mit gleicher Kompetenz über Natur- und Kunstwissenschaften, Einstein wie Goethe, das mosaische Gesetz wie die Genom-Entzifferung zu urteilen vermag.“ („Die Zeit“, 2001) Der Kieler Philosoph zollt Hänsel-Hohenhausen „große Bewunderung für sein philosophisches Werk“. Auf die Bemerkung des Jüngeren, er bedaure, nicht sein Schüler gewesen zu sein, erwiderte dieser, was er geschrieben habe, hätte er ihm nicht beibringen können.
Die erkenntnistheoretischen Schriften Hänsel-Hohenhausens sind auch in den USA erschienen, wo sie in die lebendig geführte Diskussion um das Verhältnis von Wissen und Glauben eingreifen. Erkenntnis, also das geistige Wachstum des Menschen, ist kein bloßes Rechnen mit schon Gewusstem. Sie ist Ausdruck der in ihm angelegten Selbstüberbietung. Die moderne wissenschaftliche Welt hat eine geistige Prägung, ihr metaphysisches, ihr wahres Antlitz.

Die Operation, die grundlegend für den Aufbau der materiellen Welt ist, ist naheliegender Weise die Addition. Die Operation, die den Geist repräsentiert, ist die Multiplikation. Auch sie erweist die elementare Qualität der 1. Während der Satz 1 + 1 = 2 die Abzählbarkeit der 1, ihre Dinglichkeit, erkennen lässt, erscheint im Satz 1 x 1 = 1 die über ihre Dinglichkeit hinausgehende, immaterielle, geistige Substanz. Diese ist neutral, was die Vermehrung der Materie angeht. Die 1 hat ihre materielle Form, die sie abzählbar und addierbar macht. Sie hat aber auch ein Wesen, das sich nicht vermehren lässt, so wie Geist nicht vermehrbarerer Besitz ist und Teilhabe zulässt, die keine Verminderung ist. Addition ist Vermehrung, Multiplikation aber Verbreitung. (…)
Die 1 ist nicht nur pluripotent in der Dinglichkeit. Sie erweist auch den Geist als in der Natur repräsentiert, für die die natürlichen Zahlen stehen. Multipliziert man drei Einsen mit sich selbst (1 x 1 x 1 = 1), leuchtet das Paradox auf, daß schon das Einzelne ganz ist und daß dieses Ganze dennoch aus mehreren Ganzen besteht. Bezeichnen wir die einzelne trinitarische Person mit der 1, zeigt die Multiplikation ein perfektes Bild vom Dogma von der Heiligen Dreifaltigkeit Gottes – vom Unteilbaren, das Ursprung ist, das sich verbreitet, ohne sich zu vermehren, so, wie die Geistigkeit des Menschen ganz Geist ist und doch Teilhabe aus dem Einen.“
(„Der Geist der Welt im Zahlensystem“)